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Rezension zu: Beatrix Schönherr: Syntax - Prosodie - nonverbale Kommunikation: empirische Untersuchungen zur Interaktion sprachlicher und parasprachlicher Ausdrucksmittel im Gespräch. Tübingen: Niemeyer 1997

Gabriele Klewitz

Viele linguistische Arbeiten haben sich der gliedernden Funktion der Prosodie gewidmet und dabei vor allem das Zusammenspiel von Syntax und Prosodie untersucht. Beatrix Schönherr erweitert das Forschungsgebiet mit ihrer empirischen Untersuchung. Sie befaßt sich nicht nur mit dem Verhältnis von Prosodie und Syntax, sondern auch mit deren Beziehung zu Gestik und Blickverhalten. So wird deutlich, welche prosodischen und nonverbalen Ausdrucksmittel SprecherInnen und HörerInnen parallel zur syntaktischen Strukturierung von mündlichen In-teraktionen zur Verfügung stehen und welche dieser begleitenden Strukturierungsmittel der syntaktischen Gestaltung näher stehen.

Die Autorin widmet sich zunächst dem Stand der Forschung zu Syntax und Prosodie des ge-sprochenen Deutschen und zum Bereich der nonverbalen Kommunikation. Den Kern der Stu-die bilden vier verschiedene syntaktische Grenzmarkierungen: Satzfolgetypen para- und hy-potaktischer Natur und Parenthesen, sowie spezifische syntaktische Reparaturphänomene des gesprochenen Deutschen. Die Ergebnisse der Untersuchungen faßt Schönherr zu zehn thesen-artigen Aussagen über das Verhältnis von Syntax, Prosodie und nonverbaler Kommunikation zusammen und spitzt diese auf die Aussage zu, daß "Prosodie, Gestik und Blickverhalten syntaktische Grenzen markieren und Zusammenhänge auf syntaktischer Ebene verdeutlichen" aber auch "Reparaturvorgänge unterstützen und transparent machen oder aber 'überspielen' können" (S.214). Sie stellt fest, daß die analysierten "parasyntaktischen" Parameter zwar nicht von der Syntax gesteuert sind, aber für Sprecher und Hörer zur Wahrnehmung der Syntax von entscheidender Bedeutung sind - ein Befund, mit dem Schönherr die Ansätze von Selting (1992,1995) und Local/Kelly/Wells (1986), welche sich nur der Beteiligung der Prosodie an der Wahrnehmung von Syntax widmen, um den wichtigen Bereich nonverbalen Verhaltens erweitert, diesen aber auch gleichzeitig differenziert, indem sie eine unterschiedliche Nähe von Gestik und Blickverhalten zur Syntax feststellt.

Schönherrs Studie ist in eine kritische Aufarbeitung der Prosodieforschung zum Deutschen eingebettet und orientiert sich vor allem an den Arbeiten von Margret Selting zur "interaktiven Phonologie der Konversation", da auch sie die Prosodie an einer Schnittstelle zwischen Grammatik und Interaktion ansetzen und sich ihr empirisch nähern. Anstatt der Verwendung von neueren generativen Ansätzen und solchen Ansätzen, die mit konstruierten und isolierten Beispielen arbeiten, konzentriert sichdie Autorin strikt auf empirischen Daten ­ in diesem Falle Fernsehdiskussionen.

Schönherr führt überzeugend vor, daß die interaktive Relevanz der Prosodie zwar teilweise schon erfaßt, die Rolle des nonverbalen Verhaltens im Bezug auf syntaktische Strukturen bis-her aber völlig unzureichend erforscht wurde. Es wird allerdings nicht ganz ersichtlich, welche Relevanz die behandelte Forschungstradition - vor allem die vorgestellten funktionalen Klassifikationen nonverbalen Verhaltens (z.B. Ekman/Friesen) - für ihre eigene Untersuchung haben, worin sie nur Gestik und Blickverhalten aus der Bandbreite nonverbalen Verhaltens herausgreift. Dies stellt zwar eine Einengung der im Titel angekündigten Betrachtung "non-verbaler Kommunikation" dar, ist aber angesichts der Datenfülle und des detaillierten Umgangs mit allen Facetten der untersuchten Parameter sinnvoll.

Bei der Vorauswahl der zu untersuchenden Sequenzen war aufgrund der Beschränkungen durch die Kamerapositionierung und ­führung das Kriterium der guten Sichtbarkeit der Spre-chenden entscheidend. Vor der Kategorisierung der prosodischen Gestaltung erfolgte dann eine sehr detaillierte Transkription der Daten, bei der die Einheiten "intonatorische Phrase", "Akzent", "finaler Tonhöhenverlauf", aber auch globale Änderungen von Tonhöhe, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit sowie (gefüllte) Pausen, Einatmen und Dehnungen berücksichtigt und in einer Datenbank erfaßt wurden. Schönherr erläutert den Aufbau dieser Datenbank, auf deren Grundlage sie später statistische Auswertungen vornimmt, ohne daß ihre Leser davon jedoch über ein genaueres Verständnis des empirische Vorgehens direkten Nutzen ziehen könnten.

Um zu untersuchen, ob syntaktische Grenzen von prosodischer oder nonverbaler Seite eben-fall signalisiert werden, wurden alle beschriebenen prosodischen und nonverbalen Phänomene von der Autorin noch vor der Analyse des Corpus entweder als Signal für Kontinuität oder Diskontinuität klassifiziert. Für die Prosodie gilt nach Schönherr hauptsächlich die Abwesen-heit von Phrasengrenzen als Signale für Kontinuität. Gestik und Blickverhalten wurden im Hinblick auf Brüche oder Gleichförmigkeit an den zu untersuchenden syntaktischen Grenzen notiert. Auch hier beschreibt Schönherr detailliert, ohne voreilig funktionale Kategorien anderer Forschungsansätze zu übernehmen. Die Beschreibung ist allerdings nicht in den eigentlichen Transkripten kodiert und auch nicht Teil der Datenbank, vielmehr wird im Fließtext nach den Beispielen Gestik und Blickverhalten beschrieben. Hier ein Beispiel zur Illustration:

(ich g`ebe z´u bei D`Iesem `ARZT)' <(bei dem ich es gesch`ickt habe) '‡{EA}>(war ein T`EIL der punkte n`icht erfüllt)\
ich gebe zu bei diesem arzt bei dem ich es geschickt habe war ein teil der punkte nicht erfüllt (M, Hackethal)

Der Sprecher macht zur Unterstützung des Matrixsatzes senkrechte Handbewegungen in Kopfhöhe. Sie betonen die Wörter diesem und war[...] Dazwischen (Offset auf arzt) läßt er die Hand sinken, bis sie im Off ist[...] Die Gestik unterstützt somit die prosodischen "Einschubsignale" (größere Sprechgeschwindigkeit, Akzentherab-stufung). Das Blickverhalten zeigt dagegen Diskontinuitätssignale ohne Einschubcharakter: Beim Sprechen des Wortes arzt wechselt die Blickrichtung des Sprechers von geradeaus und leicht nach oben nach rechts unten. Dort bleibt sie auch nach dem Nebensatz, jedoch mit kurzem Seitenblick gerade nach unten für den Zeitraum der Äußerungen des Wortes habe und der anschließenden Sprechpause[...]

Alle drei untersuchten Parameter (Prosodie, Gestik, Blickverhalten) bestehen aus einer Viel-zahl von Phänomenen, die teilweise sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität signalisieren können. Im Fall der Prosodie kann zum Beispiel ein Beibehalten der Lautstärke Kontinuität ausdrücken, während Tonhöhenveränderungen Diskontinität signalisieren. Aus diesem Grund führt Schönherr für Fälle, in denen eine eindeutige Zuordnung zur Kategorie "kontinuierlich" oder "diskontinuierlich" nicht möglich ist, eine dritte Kategorie "teilweise (dis-)kontinuierlich" ein. In der eigentlichen Analyse der Daten errechnet sie Häufigkeitswerte für die ermittelten "trennenden" und "verbindenden" prosodische Grenzsignale sowie globale prosodische Ände-rungen, Akzentstärken und ­typen für verschiedene para- und hypotaktische Satzfolgen. Dann vergleicht sie diese mit den Beobachtungen über Gestik und Blickverhalten und visualisiert die Befunde über leserfreundliche Graphiken.

Die Autorin verwendet die Klassifikation nach dem Kriterium der "Kontinuierlichkeit" auch auf einer alle drei Parameter (Prosodie, Gestik, Blickverhalten) betreffenden Ebene. Sie ordnet ihre Daten in drei Gruppen, je nachdem ob die Kombinationsmöglichkeiten der drei Parameter generell betrachtet "vorwiegend Kontinuität", "vorwiegend Diskontinuität" oder in ausgeglichenem Maße beides signalisieren. Für die Klassifikation als vorwiegend kontinuierlich bzw. diskontinuierlich ist entscheidend, daß mindestens zwei der drei Parameter das Merkmal tragen, z.B. Gestik und Prosodie Kontinuität ausdrücken, das Blickverhalten aber Diskontituität signalisiert.

Damit ist die Grundlage für die Analyse prosodischen und nonverbalen Verhaltens an vorde-finierten syntaktischen Grenzen geschaffen, bei der sich für parataktische Satzfolgen eine hohe Zahl von Belegen für Diskontinuität und für hypotaktische Satzgrenzen (mit Außnahme der "hinteren Grenze eingeschobener Nebensätze") ein ausgewogenes Bild ergeben. Dies sind Ergebnisse, die Schönherr auch durch die prosodische Analyse allein bereits erhielt. Der Er-kenntnisgewinn der Studie wird deutlich, wenn die Autorin die einzelnen Typen von Satzfol-gen nicht pauschal als kontinuierlich oder diskontinuierlich klassifiziert, sondern - in an-schaulichen Graphiken - die Beteiligung von Prosodie, Gestik und Blickverhalten aufschlüs-selt. Bei den parataktischen Satzgrenzen zeigt sich eine klare Rangfolge, wonach Prosodie bei weitem am stärksten dazu eingesetzt wird, Diskontinuität zu signalisieren. Die Signalisierung von Diskontinuität durch Veränderungen im Blickverhalten ist wesentlich seltener. Hingegen trägt es den Hauptanteil bei der Kontinuitätssignalisierung. Die Beteiligung der Gestik liegt im Vergleich mit Prosodie und Gestik jeweils in der Mitte.

Unter den hypotaktischen Satzfolgen sind vor allem die eingeschobenen Nebensätze interes-sant. Sie unterscheiden sich in der Gestaltung ihrer hinteren Satzgrenzen deutlich von allen anderen Grenzen in hypotaktischen Satzfolgen, indem sie ein viel stärkeres Maß an Diskonti-nuitätssignalisierung auf allen drei untersuchten Ebenen aufweisen; die prosodische Gestaltung dient in diesen Fällen nicht der Signalisierung von Kontinuität und auch die Gestik ist nur in verschwindend geringem Maße beteiligt. Eingeschobene Nebensätze des Typs (Matrixsatz)-Nebensatz-Matrixsatz verhalten sich somit genauso wie parataktische Satzfolgen, d.h. die syntaktischen Grenzen werden auf prosodischer und nonverbaler Ebene unterstützt.

Für alle Satzfolgetypen gilt, daß es kaum Merkmalkombinationen bei der Markierung von syntaktischen Grenzen ohne die Beteiligung der Prosodie gibt. Diese tritt dabei am häufigsten (jeweils ca. 25%) in Kombination mit Gestik oder mit Gestik und Blickverhalten (Parataxe 58%, Hypotaxe 28%) auf. Da nicht alle Grenzmarkierungen exak t zeitgleich mit syntaktischen Grenzen auf treten, betrachtet die Autorin daher auch solche prosodischen und nonverbalen Grenzmarkierungen, die in unmittelbarer Nähe einer syntaktischen Grenze auftreten. Die Aufschlüsselung nach Parametern zeigt, dass die prosodischen Grenzmarkierungen sehr selten zeitlich verschoben sind - und wenn, dann nur nach hinten. Grenzmarkierungen über Gestik und Änderung des Blickverhaltens sind viel häufiger im Bezug auf die syntaktische Grenze verschoben. Schönherr deutet dies - sicher zu recht - als einen Hinweis auf die stärkere Bindung der Prosodie an die Syntax. Innerhalb des untersuchten nonverbalen Verhaltens weist die Gestik stärkere Verknüpfung mit der Syntax auf als das Blickverhalten.

Was so gründlich für Satzfolgetypen durchgeführt wurde, wird im Folgenden dann auch für anderer syntaktische Grenzen durchgespielt: Parenthesen (unterschieden in Parenthesen i.e.S. und Gliederungssignale), sowie "Fehlansätze" (Wortneuansatz, aufgreifender Neuansatz und verwerfender Neuansatz) und wiederholte Ansätze. Für Parenthesen stellt Schönherr fest, daß "kein einziger Fall von Grenzmarkierung vorkommt, an dem die Prosodie nicht beteiligt ist" (S.151). Die vorderen Grenzen von Parenthesen werden stärker als diskontinuierlich markiert als dies für Gliederungssignale der Fall ist. Die Beteiligung von Prosodie, Gestik und Blick-verhalten an der Signalisierung von (Dis-)Kontinuität ähnelt in der Rangfolge ihrer Gewichtung den Befunden für die Satzfolgetypen.

Für die Analyse prosodischer Grenzsignale an der Abbruchstelle von allen drei Typen von Fehlansätzen ist festzuhalten, daß verbindende prosodische Grenzsignale bei allen im gleichen Maße vorhanden sind, verwerfende Neuansätze aber ein viel höheres Maß an trennenden Grenzsignalen aufweisen als aufgreifende Neuansätze. Schönherr folgert meines Erachtens korrekt, daß bei letzteren die Kontinuität trotz Korrektur stärker betont wird. Wie in den er-sten beiden Untersuchungen zu Satzfolgetypen und Parenthesen festgestellt, hat auch bei den Fehlansätzen die Prosodie den größten Anteil an der Signalisierung von Diskontinuität - gefolgt von Gestik und Blickverhalten; auch hier überwiegen Merkmalskombinationen unter Beteiligung der Prosodie.

Der letzte Teil der Untersuchung widmet sich wiederholten Ansätzen und der Grenzmarkie-rung zwischen erstem und zweitem Ansatz. Im Gegensatz zu den anderen untersuchten Fällen tritt ein prosodisches oder nonverbales Grenzsignal hier fast immer in Kombination mit einem oder mehreren Kontinuitätssignalen im gleichen Verhaltensbereich auf. Wie bei den Fehlan-sätzen steht die Signalisierung der Zusammengehörigkeit der Teile bei Reparaturvorgängen im Vordergrund. Wiederholte Ansätze sind im Übrigen der einzige untersuchte Fall syntaktischer Grenzen, bei dem die Prosodie am schwächsten an der Signalisierung von Diskontinuität beteiligt ist. Statt dessen übernimmt hier das Blickverhalten den Hauptanteil der Diskonti-nuitätssignalisierung - ganz im Gegensatz zu den Ergebnissen der anderen untersuchten Fälle.

Nachdem Schönherr jedes Unterkapitel der vorgestellten Untersuchungen mit einer kurzen Zusammenfassung abschließt, ist es eine konsequente Fortführung ihrer leserfreundlichen Darstellung, daß sie abschließend ihre Ergebnisse in zehn Punkten thesenartig zusammenfaßt, worin sie nocheinmal die dominante Rolle der Prosodie bei der Wahrnehmung von Syntax im gesprochenen Deutschen zeigt und zugleich überzeugend deutlich macht, daß eine isolierte Betrachtung der Bereiche traditioneller Linguistik unter Ausschluß der Analyse nonverbalen Verhaltens einen wichtigen Aspekt der Verstehensprozesse gesprochener Sprache in Face-to-Face-Interaktion vernachlässigen. Eine rein syntaktische Betrachtung kann syntaktische Gren-zen ermitteln und klassifizieren, vernachlässigt aber den Kontextualisierungsspielraum den Sprecher bei der Gestaltung dieser syntaktischen Grenzen haben, indem sie prosodische und nonverbale Mittel zur Verstärkung oder Abschwächung einer Grenzmarkierung einsetzen. Ihre Studie ist somit all jenen zur Syntax Forschenden zu empfehlen, die bereit sind, para-syntaktische Parameter in ihre Analysen einzubeziehen, aber auch allen Prosodie-Interessierten, die ein komplettes Bild der Rolle der Prosodie für die gesprochene Sprache anstreben. Schließlich ist Schönherrs Studie auch allen anderen Interessierten als eine gründ-liche, leserfreundlich aufgearbeitete Untersuchung zu Gestaltungsmöglichkeiten in Face-to-Face Interaktionen zu empfehlen.

Literatur

Selting, Margret (1992): Intonation as a Contextualization Device: Case Studies on the Role of Prosody, especially Intonation, in Contextualizing Story Telling in Conversation. In: Peter Auer und Aldo di Luzio (Hrsg.): The Contextualization of Language. Amsterdam/Philadelphia, 233-258.
Selting, Margret (1995): Prosodie im Gespräch. Aspekte einer interaktionalen Phonologie der Konversation. Tübingen. (=Linguistische Arbeiten 329).
Local, John/John Kelly/William H.G. Wells (1986): Towards a Phonology of conversation: Turn-taking in Tyneside English

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Institut für Gesprächsforschung (IGF), Dr. Martin Hartung
7.7.2003