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Rezension
zu: Werner Nothdurft, Wortgefecht und Sprachverwirrung. Gesprächsanalyse der Konfliktsicht von Streitparteien. Dr. Carmen Spiegel |
Werner Nothdurft untersucht in seinem Buch 'Wortgefecht und
Sprachverwirrung. Gesprächsanalyse der Konfliktsicht von Streitparteien'
die 'Subjektive Konflikt-Organisation' von Streitparteien in
Schlichtungsverhandlungen, Güteverhandlungen und Verhandlungen vor
Vergleichsbehörden. Unter der Subjektiven Konflikt-Organisation versteht
der Autor dasjenige Subjektive der einzelnen Streitbeteiligten, das deren
Handeln und Verhalten bzw. deren Interaktion in einer
Schlichtungssituation bestimmt. Recht gründlich setzt sich der Verfasser
in seinem Buch mit den unterschiedlichen Facetten und Schichten des
Handelns der Streitbeteiligten im Hinblick auf deren Subjektive
Konflikt-Organisation auseinander. Überhaupt bestimmt
'Auseinandersetzung' in verschiedener Hinsicht dieses Buch:
Auseinandersetzungen grundsätzlicher, theoretischer Natur überwiegen im
ersten Teil der Arbeit, den empirischen Analysen des zweiten Teils liegen
Auseinandersetzungen als Untersuchungsgegenstand zugrunde, die
Auseinandersetzung des Gesprächsanalytikers schließlich mit seinem
Gegenstand durchziehen alle Teile des Buches und werden im Nachwort
explizit gemacht.
Der erste Teil des Buches, der die theoretischen und methodologischen Überlegungen des Autors behandelt, stellt gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen (Kap. 2) aus der Psychologie ('Naive Theorien', 'Cognitive maps', Konzept der 'Perspektivität'), der Soziologie ('Soziale Kognitionen', 'belief systems') und aus der Linguistik dar ('Linguistische Taxonomien, 'kommunikatives Handeln', 'Argumentationsanalyse', 'Textlinguistik'). Der Verfasser diskutiert die Brauchbarkeit der verschiedenen Ansätze im Hinblick auf seinen Forschungsgegenstand, der Subjektiven Konflikt-Organisation, und er verwirft sie mit der Begründung, dass in den meisten Ansätzen sprachliche Daten über Zwischenschritte in kognitive Konstruktionen überführt würden und diese dabei ihren sprachlichen Charakter verlören, wohingegen sein Gegenstand gerade als Gesprächsphänomen wesentlich ist (1998: 28). Die Frage, ob die Subjektive Konflikt-Organisation im Kopf oder im Gespräch ist, wird in Kap. 3 untersucht. Das Konzept der 'mentalen Repräsentation' wird entlang verschiedener Gegenargumente verworfen, so durch das Argument vom 'Background', das Searle entwickelt hat, durch das von Putnam hervorgebrachte Argument der 'linguistischen Arbeitsteilung', durch das Argument von der 'Vermengung der Beobachterperspektiven', mit dem sich Maturana & Varela beschäftigt haben und schließlich durch das Argument vom 'Verschwinden des Repräsentandums', auf das Herrmann aufmerksam gemacht hat. Nothdurft kommt zu dem Schluss, dass die Subjektive Konflikt-Organisation im Spannungsverhältnis zwischen intersubjektiver Bedeutungskonstitution auf der einen Seite und subjektiver Sinnorientierung und subjektiv mitgemeinter Bedeutung in Rede benutzter sprachlicher Ausdrücke auf der anderen Seite steht (1998: 38): Subjektive Konflikt-Organisation ist 'in der Interaktion', nicht im Kopf (1998: 39). Als Grundzüge einer Methodologie der Analyse Subjektiver Konflikt-Organisation sieht der Verfasser unter Stützung auf Devereux die Prinzipien der 'Konstruktivität', 'Komplementarität' und 'Subjektivität'. Diese drei Prinzipien bestimmen die Analysetätigkeit des Gesprächsanalytikers und damit seinen Gegenstand. Zur Gegenstandsbestimmung selbst kommt Nothdurft im 4. Kapitel, wobei er sich auf die von Humboldt ausgehende Forschungstradition zum Sprachverstehen stützt (1998: 67): "Subjektive Konflikt-Organisation ist der subjektbezogene Bedeutungszusammenhang, den Streitbeteiligte über ihren Redegegenstand, den Konflikt, im Laufe ihres Streitgesprächs entwickeln und festschreiben, aus dem heraus sie die Äußerungen ihres Streitgegners interpretieren und aus dem heraus ihr eigenes Gesprächshandeln seine Orientierung erfährt." Subjektive Konflikt-Organisationen schlagen sich in den sprachlichen Konstruktionen der Beteiligten nieder: in Szenarios, in Deutungsmuster und in Relationen. Nach den Überlegungen zu epistemischen, methodologischen und gegenstandstheoretischen Bestimmungen schließen in Teil II die 'Empirischen Beobachtungen' des Autors an: Nothdurft beschreibt die Entstehung bzw. die Evolution und die Stabilisierung (Kap. 1) der Subjektiven Konflikt-Organisation im Kontext der konfrontativen Interaktion durch die gegnerische Partei, deren interne Stabilität und weitere Stabilisierung durch spezifische Aktivitäten des Gesprächsteilnehmers in der Interaktion (Kap. 2). Mit der hypothetischen Unterscheidung zwischen der manifesten und der latenten Subjektiven Konflikt-Organisation (Kap. 3) können Orientierungsgesichtspunkte der Teilnehmenden gefasst werden, die diese nicht explizieren, die deren Verständnis des Konflikts jedoch mitprägen, wie aus Indizien, Auffälligkeiten und Widersprüchlichkeiten aus dem Gesprächsverhalten der Teilnehmenden erschlossen werden kann (1998: 193). Anhand der Subjektiven Konflikt-Organisation ist auch das Scheitern der Konflikt-Kontrolle durch den Schlichter (Kap. 4) als ein systematisches Scheitern erklärbar, so z.B als dynamisches, sich reproduzierendes Muster von Drängen und Abblocken zwischen dem Schlichter und der einen Streitpartei (1998: 225), sodass eine gemeinsame Konfliktdefinition nicht entstehen kann. Ignoriert oder banalisiert der Schlichter wesentliche Bestandteile der Subjektiven Konflikt-Organisation einer Streitpartei im Bemühen, eine neue, gemeinsame Sicht des Konflikts mit den Streitparteien zu entwickeln, ist, wie der Autor sagt (1998: 233), der Nerv der Subjektiven Konflikt-Organisation dieser Streitpartei getroffen; sie leistet Widerstand, und die Maßnahmen des Schlichters sind zum Scheitern verurteilt. Eine weitere Barriere für eine erfolgreiche Schlichtung stellen die gravierenden Perspektivendivergenzen der Beteiligten dar. Aus der Distanz des Gesprächsanalytikers forscht der Verfasser in Kap. 5 nach Lösungspotentialen für die Überwindung der Perspektivendivergenz. Er entwirft ein Mehr-Ebenen-Modell der Subjektiven Konflikt-Organisation. Auf der Ebene der Konfliktdarstellung und -behandlung geht es um die Beantwortung der Frage 'Was geschah wirklich?'; darum dreht sich in der Regel die Schlichtungsinteraktion mit der Folge, dass sich die Fronten der Streitparteien verschärfen und verhärten. Einigungspotential hingegen besteht auf der sogenannten Ebene der Werte Mittlerer Reichweite, auf welcher es um die Berücksichtigung dessen geht, was den Parteien wichtig ist: Anstatt der eskalierenden Fixierung der Beteiligten auf das Konfliktgeschehen könnte die stärkere Berücksichtigung der Interessen beider Parteien durch den Schlichter sowie Versuche, die Parteien zu einer Perspektivenübernahme der Situation des Gegenübers zu bewegen, erfolgreicher verlaufen, wie Beobachtungen aus der Konflikt- und Verhandlungsforschung zeigen (1998: 266/267). So kommt Nothdurft in Kap. 6 auf die Rolle der Subjektiven Konflikt-Organisation bei Einigungsprozessen und deren Scheitern zu sprechen und zeigt abschließend noch an verschiedenen Beispielen die 'tragische Dynamik', wenn der Schlichter meint, etwas für eine Partei getan zu haben, dabei aber gleichzeitig wesentliche Punkte von deren Subjektiver Konflikt-Organisation missachtet - und dadurch scheitert. Auch am Ende des Buches geht es wie bereits erwähnt um Auseinandersetzung, allerdings in einem anderen Sinn: Der Autor setzt sich mit seinem durch die Analyse entwickelten Gegenstand 'Subjektive Konflikt-Organisation' auseinander, reflektiert seine Rolle als Gesprächsanalytiker, als Konstrukteur, der den Gegenstand im Vollzug der Analyse und in der Interaktion mit dem Untersuchungsmaterial erst konstitutiert - und ohne den der Gegenstand der 'Subjektiven Konflikt-Organisation' nicht entstanden wäre; diese Vorstellung lässt im Autor Schwindel entstehen, was er spielerisch reflektiert. Insgesamt ist es ein gut fundiertes, materialreiches und gut lesbares Werk, das einen wissenschaftlichen Ansatz abseits der traditionellen Bahnen wagt - gerade auch mit dem Einbezug des Analytikers in den wissenschaftlichen Findungsprozess. Im theoretischen Teil setzt sich Nothdurft mit vielen Ansätzen aus den verschiedensten Disziplinen auseinander; er diskutiert, verwirft und nutzt in erfrischender Weise und ohne Berührungsängste eine weite Palette wissenschaftlicher Ergebnisse über die disziplinären Grenzen hinaus für die Konturierung seines Forschungsgegenstands. Der empirische Teil des Buchs fasziniert mit einer Fülle von Fällen und Beispielen, die einerseits der wissenschaftlichen Nachvollziehbarkeit dienen, andererseits recht anschaulich die jeweiligen Phänomene und interaktiven Prozesse illustrieren und auf unterhaltsame Weise die abstrakten Begriffe und strukturellen Schemata konkretisieren. Etwas knapp gehalten sind gerade gegen Ende des Buchs die Erläuterungen einiger Grafiken, die Strukturen und Verläufe sichtbar machen. Mit seiner detailreichen, lebendigen Art der Analysedarstellung und den 'lesbaren' Transkripten, die auf paraverbale Beschreibungen verzichten, hat Nothdurft einen goldenen Mittelweg gefunden, einen Analysenachweis zu präsentieren ohne die häufig ermüdenden Detailanalysen, denen man bei dieser Form der wissenschaftlichen Darstellung gelegentlich begegnet, und ohne dass der Gegenstand der Analyse dabei pulverisiert wird und gleichsam verschwindet, wie es gerade bei der gesprächsanalytischen Arbeit geschehen kann. |
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Institut für Gesprächsforschung
(IGF), Dr. Martin Hartung
7.7.2003