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Rezension zu: Johannes Schwitalla,  Gesprochenes Deutsch: eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1997
(= Grundlagen der Germanistik 33)

Dr. Harald Baßler

30 Jahre nach Erscheinen des Aufsatzes "Gesprochene Sprache. Zu ihrer Typik und Terminologie" von Hugo Steger (1967), der grundlegend für die systematische Erforschung der deutschen gesprochenen Standardsprache war, legt Johannes Schwitalla eine Einführung in "Gesprochenes Deutsch" vor. Mit ihr soll in erster Linie Studierenden der Germanistik ein Überblick über wesentliche Merkmale des gesprochenen Deutsch und über den aktuellen Forschungsstand gegeben werden. Um es bereits vorweg zu sagen: Dies ist m.E. Schwitalla auch ausgezeichnet gelungen. Durch seine langjährige Tätigkeit auf dem Gebiet der Gesprochenen Sprache-Forschung, zunächst als Mitarbeiter in der Freiburger Forschungsgruppe von H. Steger, später dann durch seine Tätigkeit am IdS Mannheim, kann er auch als ausgesprochener Kenner der Materie gelten. Dieses Urteil soll auch durch meine nachfolgende Kritik in dem einen oder anderen Punkt nicht geschmälert werden. Im Gegensatz zu der Einführung Gesprochene Sprache von Schank/Schoenthal (1983), die noch sehr stark durch den Ansatz der ,Freiburger Forschungsstelle des Instituts für deutsche Sprache‘ geprägt war, also durch die Beschreibung typisierter Kommunikationssituationen (= Redekonstellationstypen) mit kovarianten Textsorten, aber auch anders als die Einführung in die Gesprochene Sprache in der Romania von Koch/Oesterreicher (1990), führt die Monographie von Schwitalla umfassend in Besonderheiten der gesprochenen deutschen Sprache ein, indem konsequent alle sprachsystematischen Ebenen, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten, abgearbeitet werden. Nach der Einordnung gesprochener Sprache in das Nähe/Distanz-Kontinuum (Koch/Oesterreicher 1990) im Einleitungskapitel hebt Schwitalla die negative Einstellung hervor, die gegenüber der gesprochenen Sprache lange Zeit zu beobachten war und heute noch hier und da latent ist. Deutlicher als er es aber tut, muss dabei betont werden, dass die Sprachwissenschaft selbst durch die ausschließliche Beschäftigung mit geschriebener Sprache dieser negativen Haltung Vorschub leistete. Außerdem wurden viele Kategorien zur Analyse gesprochener Sprache wegen der Schriftfixiertheit in der Sprachwissenschaft einfach aus der Forschung zur geschriebenen Sprache übernommen (vgl. z. B. Wort, Satz, Text), ohne dass sie für die Erforschung der Mündlichkeit geeignet gewesen wären (vgl. Fiehler 1994). Zusammen mit der einseitigen Schwerpunktlegung der Linguistik auf die langue muss die Schriftfixiertheit auch als wesentlicher Grund dafür angesehen werden, dass es selbst nach der Erfindung des Tonbandgeräts in den 30er Jahren ,,noch ziemlich lange [dauerte], bis man in den 60er Jahren begann, gesprochene Alltagsrede aufzuzeichnen und ihre sprachlichen Merkmale zu untersuchen" (Schwitalla 1997, 14f; vgl. dazu ausführlich Auer 1993). Einige grundsätzliche Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache (Kapitel 3) wie unterschiedliche Planungszeit von Geschriebenem und Gesprochenem, Bildung und Verarbeitung von Informationseinheiten statt formal abgeschlossener Einheiten, schrittweises Formulieren, geringere syntaktische Komplexität in der gesprochenen Sprache und Entlastung gesprochener Sprache durch die Anwesenheit von Interaktionspartnern in der Gesprächssituation sowie die dabei stattfindende gemeinsame Bearbeitung von Texten, wurden daher erst sehr spät systematisch erforscht, obwohl doch Behaghel bereits 1899 in einem Vortrag hoffnungsvolle Ansätze dazu präsentierte. Schwitalla beschreibt in seinem Buch die formalen Auswirkungen dieser besonderen Produktionsbedingungen gesprochener Sprache von "den kleinen sprachlichen Einheiten zu den größeren und komplexeren" (S. 12). Ausführlich diskutiert er in jedem Kapitel die kommunikative Funktion der ausdrucksseitigen Phänomene sowie deren Motive und belegt sie durch reichhaltiges Textmaterial. Schwitalla beugt isolationistischen Interpretationen dadurch vor, dass er, wenn nötig, auch weitere formale Besonderheiten in die Interpretation der Beispiele mit einbezieht und auf Textstellen verweist, an denen diese dann ausführlicher behandelt werden. Dieses Prinzip gilt bis auf zwei Fälle (bei dem Gebrauch der Termini "Anakoluth" und "Aposiopese" auf S. 67 fehlt der Verweis auf Kapitel 6.3. und bei der Einführung der Termini "Fokusakzent" bzw. "Kontrastakzent" auf S. 69 der Verweis auf Kapitel 9.2). Immer wieder hebt er dabei auch die Polyfunktionalität einzelner Phänomene hervor. Schwitalla handhabt sein Anordnungsprinzip von "den kleinen sprachlichen Einheiten zu den größeren und komplexeren" außerdem so flexibel, daß es den mündlichen Produktionsbedingungen immer gerecht wird: So geht er nach Kapitel 4, in dem er vorwiegend phonetische Aspekte gesprochener Sprache behandelt, noch nicht auf die nächst größere Einheit, die Lexik, ein (dies geschieht erst in Kapitel 10), sondern beschäftigt sich sofort mit den "Äußerungseinheiten". Dies ist deshalb angebracht, weil unsere mündlichen Äußerungen in den seltensten Fällen lediglich aus Wörtern (z. B. "Feuer!") bestehen, aber auch nicht regelmäßig aus wohlgeformten, syntaktisch vollständigen Sätzen. Vielmehr sind unsere Äußerungen mit Hilfe von formalen - z. B. lexikalischen oder prosodischen - Mitteln in verschiedene Teile gliederbar, eben Äußerungseinheiten, deren kommunikative Leistung u.a. darin besteht, eine propositional geschlossene Information zu geben. Daran anschließend folgen Kapitel zu syntaktischen Phänomenen gesprochener Sprache und zu syntaxübergreifenden Erscheinungen wie Formulierungsverfahren sowie ein kürzeres Kapitel zu Textformen. Bei Letzterem legt er den Schwerpunkt auf die besonders gut untersuchten narrativen Texttypen. Da das Kapitel, wie überhaupt das ganze Buch, voll weiterführender Literaturhinweise steckt, ist das vertiefende Weiterlesen aber ohne Probleme möglich. Das längste Kapitel in diesem Block ist das Syntaxkapitel, auf das ich im Folgenden etwas ausführlicher eingehen möchte, da mir besonders in diesem einige Ungenauigkeiten bzw. Inkonsequenzen aufgefallen sind. Schwitalla geht hierin zunächst auf Kurzformen ein, die für die gesprochene Sprache besonders prägend sind. Dazu zählt er die Ellipsen, die mit Bühler als Äußerungen definiert werden, "in denen wirklich eine echte syntaktische Vollendung innerlich erfordert, aber äußerlich nicht geleistet wird, weil sie kontextlich überflüssig erscheint" (Bühler 1965, 2. Auflage, 166f). Durch die Gegenüberstellung der Ellipsen mit "syntaktisch nicht eindeutig rekonstruierbare[n] Kurzformen" (S. 73) wird offensichtlich, dass Schwitalla nur solche Kurzformen zu den Ellipsen zählt, die syntaktisch auch eindeutig auffüllbar sind (vgl. dazu auch seine Bemerkungen auf S. 74). Inkonsequent erscheint es mir daher, wenn entgegen der ursprünglich engen Definition von Ellipsen auch empraktische Äußerungen wie "ein Bier, bitte" oder "einmal Offenburg, hin und zurück" zu den Ellipsen gezählt werden, da hier mehrere syntaktische Auffüllungen möglich sind. Die ursprünglich enge Ellipsendefiniton wird damit also wieder aufgeweicht. Konsequent ist es dagegen, wenn Schwitalla die syntaktisch nicht eindeutig rekonstruierbaren "syntaktischen Eigenkonstruktionen", also solche Äußerungseinheiten, die erst durch den von den Interaktionsteilnehmern aufgebauten semantischen Zusammenhang erschlossen werden können, entgegen anderen Auffassungen in der Forschung (z.B. Rath 1979 bzw. Selting 1997) nicht zu den Ellipsen zählt. Etwas befremdlich wirkt allerdings, dass Schwitalla im Zusammenhang mit deren Behandlung schreibt, man müsse untersuchen "ob nicht der Ellipsengebrauch auch altersspezifische Häufigkeiten hat" (S. 74). Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass diese syntaktisch nicht eindeutig auffüllbaren Kurzformen doch wieder zu den Ellipsen gerechnet werden. Weiteres Thema in diesem Kapitel sind "Formen syntaktischer Diskontinuität". Neben Satzverschränkungen und Ausklammerungen werden im Anschluss an Altmann (1981) und Auer (1991) auch Linksherausstellungen und Rechtsherausstellungen bzw. Nachträge dazu gerechnet. Rechtsherausstellungen und Nachträge unterscheidet Schwitalla dadurch, daß erstere ein stellvertretendes Element im Satz haben, Nachträge dagegen nicht. Allerdings schreibt er auf S. 81 von "Nachträgen mit einem Stellvertreter", die es nach seiner Definition eigentlich gar nicht geben dürfte. Weitere Unterkapitel innerhalb des Syntaxkapitels sind den Anakoluthformen gewidmet, wobei für die Aposiopese als gewollten Abbruch der häufiger nicht vollständig ausgeführte Fluch "So ein Sch:::" ein besseres Beispiel gewesen wäre; ferner den Parenthesen, ohne aber den äußerst schwierig abzugrenzenden Phänomenbereich formal zu definieren (vgl. dazu jetzt Hoffmann 1998) sowie den Besonderheiten im Verbalkomplex (Tempusverteilungen, Genera verbi, Modus) und den Konjunktionen, besonders der Verbzweitstellung bei weil- bzw. obwohl-Sätzen. Abgeschlossen wird die Einführung durch ein längeres Kapitel zur Prosodie (Akzent und Rhythmus (hier ist übrigens Abb. 2, S. 145 etwas unglücklich bereits im nächsten Unterkapitel plaziert), Intonationsverläufe, Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke, Pausen sowie Prosodie und Ausdruck von Emotionalität); ferner durch das bereits erwähnte Kapitel zur Lexik gesprochener Sprache, in dessen Zusammenhang semantische Prinzipien der gesprochenen Alltagssprache wie Vagheit und lebenspraktische Relevanz sowie verschiedene Interaktionsmodalitäten wie belustigend heiteres Sprechen, ironisches oder pathetisches Sprechen behandelt werden. Schließlich folgt noch ein kurzer Überblick über nonverbale Elemente, die einen wesentlichen Beitrag zur Kontextualisierung des Gesagten in der face-to-face-Kommunikation leisten. Gerade bei dem Kapitel zur Prosodie tritt am deutlichsten zu Tage, was man sich als Rezipient des Buches schon an manchen Stellen in den Kapiteln zuvor gewünscht hätte: dass nämlich dem Buch eine CD mit den Aufnahmen der Beispiele beigefügt worden wäre, so dass die Beschreibungen und Argumentationen auch "ohrenfällig" geworden wären. Schwitallas Einführung habe ich in einem Proseminar als Basislektüre eingesetzt. Sie bot reichhaltiges Material für die Seminardiskussion und vermittelte den Studierenden eine sehr breite Grundlage für die selbständige Analyse gesprochener Sprache. Eine informelle Befragung bei den teilnehmenden Studierenden zeigte, dass alle mit der Präsentation des Stoffes gut zurecht kamen, da er sprachlich k1ar dargeboten wird und übersichtlich gegliedert ist. An manchen Stellen hatten die Teilnehmer allerdings Schwierigkeiten mit der Terminologie. Sie vermissten ein Glossar, in dem die einzelnen Fachwörter noch einmal prägnant definiert aufgelistet werden und auch selten gebräuchliche Termini wie "Operator-Skopus-Konstruktion" erläutert werden.

Literatur

Altmann, Hans (1981): Formen der "Herausstellung" im Deutschen. Tübingen: Niemeyer.
Auer, Peter (199l): Vom Ende deutscher Sätze. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 19, 139-157.
Bühler, Karl (21965): Sprachtheorie: die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart: Fischer.
Fiehler, Reinhard (1994): Analyse- und Beschreibungskategorien für geschriebene und gesprochene Sprache. Alles eins? In: Cmejrkov , Svetla et al. (eds.): Writing and Speaking: language, text, discourse, communication; proceedings of the Conference held at the Czech Language Institute of the Academy of Sciences of the Czech Republic, Prague, October 14-16, 1992 (= Tübinger Beiträge zur Linguistik; 392). Tübingen: Narr, 175-180.
Hoffmann, Ludger (1998): Parenthesen. In: Linguistische Berichte 175, 299-328.
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1990): Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch (= Romanische Arbeitshefte; 31) Tübingen: Niemeyer.
Rath, Rainer (1979): Kommunikationspraxis: Analysen zur Textbildung und Textgliede- rung im gesprochenen Deutsch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Schank, Gerd/Schoenthal, Gisela (1983): Gesprochene Sprache: eine Einführung, Forschungsansätze und Analysemethoden. (= Germanistische Arbeitshefte; 18). Tübingen: Niemeyer. [1.Auflage 1976].
Selting, Margret (1997): Sogenannte "Ellipsen" als interaktiv relevante Konstruktionen? Ein neuer Versuch über die Reichweite und Grenzen des Ellipsenbegriffs. In: Schlobin- ski, Peter (Hg.): Studien zur Syntax des gesprochenen Deutsch. Opladen: Westdeutscher Verlag, 117-155.
Steger, Hugo (l 967): Gesprochene Sprache. Zu ihrer Typik und Terminologie. In: Satz und Wort im heutigen Deutsch. Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1965(= Sprache der Gegenwart; l). Düsseldorf: Schwann, 259-291.

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Institut für Gesprächsforschung (IGF), Dr. Martin Hartung
7.7.2003